- Mahabharata, Ramayana und Bhagavata Purana: Die indischen Epen
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Die epische Literatur Indiens enstand, anders als die vedische, überwiegend in der Kaste der Kshatrya, des Kriegeradels, und war damit von der Lebensweise der herrscherlichen Höfe geprägt. Verbreitet wurde sie vorwiegend durch Hofsänger oder fahrende Sänger. Zu den bekanntesten und größten dieser Epen gehören sicherlich das »Mahabharata« (= das große Epos vom Kampf der Nachkommen des Bharata) und das »Ramayana« (= Ramas Lebenslauf). Diese ersten Werke überwiegend weltlichen Charakters in der indischen Literatur wurden lange mündlich und außerhalb des orthodoxen Brahmanentums überliefert. Sie gehen auf kriegerische Heldengesänge zurück, in denen die heroischen Taten früher Helden des Kriegeradels besungen wurden.Das »Mahabharata« umfasst über 100 000 Doppelverse und ist damit wohl die längste Dichtung der Weltliteratur. Als Verfasser des Werkes gilt der weise Seher Vyasa. Er soll es auf Bitten des Gottes Brahma dem elefantenköpfigen Gott Ganesha diktiert haben, weil es auf Erden noch keine der Schrift Kundigen gab. Das Epos als Ganzes lässt sich nicht datieren, weil durch Einfügung verschiedener Episoden ständig an ihm weitergedichtet wurde. Seine der heutigen entsprechende Gestalt scheint es wohl in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten gewonnen zu haben. Es besteht aus 18 Büchern und dem als Nachtrag geltenden »Harivamsha«, in dem das Leben Krishnas dargestellt ist.Den Kern des »Mahabharata« bildet die Schilderung der Thronstreitigkeiten der Nachkommen der Brüder Dhritarashtra und Pandu. Der blind geborene Dhritarashtra hatte 100 Söhne, die Kauravas (= Abkömmlinge des Kuru), unter denen Duryodhana der älteste war. Seinem Bruder Pandu schenkten seine beiden Ehefrauen fünf Söhne, die Pandavas (= Abkömmlinge des Pandu) Yudhisthira, Arjuna, Bhima, Nakula und Sahadeva, die jedoch in Wahrheit die Söhne bestimmter Götter waren. Nach dem Tod Pandus übernahm zunächst der blinde Dhritarashtra die Herrschaft in Hastinapura, 56 Meilen nordöstlich von Delhi. Die Vettern wurden gemeinsam erzogen. Als Dhritarashtra Yudhisthira zum Thronfolger bestimmte, versuchte Duryodhana die fünf Pandavas durch einen Brand in dem von ihnen bewohnten Palast aus dem Weg zu räumen. Die Pandavas entkamen jedoch dem Anschlag. Am Hofe Drupadas gewann Arjuna durch das Spannen eines bestimmten Bogens die Königstochter Draupadi, die mit den fünf Pandavas verheiratet wurde. Dort lernten die Pandavas auch den Gott Krishna in Menschengestalt kennen; er wurde ihr treuer Freund. Dhritarasthra teilte sein Reich unter den Kauravas und Pandavas auf. Letztere gründeten die Stadt Indraprastha, das heutige Delhi, und bauten von dort aus ihr Reich aus. Duryodhana, der den Pandavas diese Erfolge neidete, lud sie zum Würfelspiel nach Hastinapura ein. Dabei verspielte Yudhisthira sein Reich, seine Freiheit und die Gattin Draupadi. Nach einem weiteren verlorenen Würfelspiel waren die Pandavas gezwungen, ihr Reich zu verlassen und für zwölf Jahre in die Verbannung zu ziehen. Nach Ablauf der Frist forderten sie das halbe Königreich zurück. Als sich Duryodhana weigerte, kam es zu der berühmten achtzehntägigen Schlacht von Kurukshetra, nördlich von Delhi. Die Kauravas wurden von Bhishma und Duryodhana angeführt. An der Spitze der Pandavas stand Arjuna mit Krishna als Wagenlenker. Der schreckliche Kampf endete mit einer Niederlage der Kauravas, deren Anführer Duryodhana am letzten Tag durch die Keule des Bhima niedergestreckt wurde. Yudhisthira regierte danach 15 Jahre in Gerechtigkeit und Frieden. Er setzte den Enkel Arjunas zum Herrscher ein, entsagte der Welt und zog, von seinen Brüdern, Draupadi und einem Hund begleitet, nach Norden zum Berg Meru. Als dann die Brüder und Draupadigestorben waren, führte der Gott Indra IndraYudhisthira mit seinem Hund in den Himmel.Die vielen im »Mahabharata« eingestreuten Episoden dienen dazu, Berichte von ähnlichem Geschehen in die Handlung einzuflechten oder theologische, philosophische und sittenrechtliche Anschauungen populär darzustellen. In der Episode von »(König) Nala und Damayanti« wird beispielsweise dargestellt, wie König Nala wie Yudhisthira sein Reich im Würfelspiel verliert. Er zieht mit Damayanti in die Waldeinsamkeit, wo ihn Kali, der Dämon des Würfelspiels, weiter verfolgt. Um Damayanti nicht zu gefährden, verlässt Nala sie, die dort im Wald in die größten Gefahren gerät. Nala wird als königlicher Wagenlenker eingestellt und schließlich mit seiner Gattin wieder vereinigt. In diesem Teil der Episode werden vor allem die eheliche Liebe und Treue Damayantis verherrlicht. Unter den Einschüben sind zahlreiche Mythen und Legenden zu finden, die auch in anderen Werken verarbeitet wurden, wie die Geschichte von Rama und Sita, die den Inhalt des »Ramayana« bildet, oder die der Shakuntala, deren Schicksal der Dichter Kalidasa in einem Drama gestaltete, oder auch die der gattentreuen Savitri. Zu den lehrhaften Abschnitten des Mahabharata ist die Bhagavadgita (= »der Gesang des Erhabenen«) zu rechnen. In ihr verkündet der Gott-Mensch Krishna dem Helden Arjuna religiöse Lehren, in denen er darlegt, dass die Erlösung weder durch Werke noch durch Erkenntnis zu erlangen sei, sondern durch »Gottesliebe« (»bhakti«), durch die gläubige Hingabe an einen höchsten, ewigen, persönlichen Gott.Das »Ramayana«, das zweite große volkstümliche Epos, unterscheidet sich vom »Mahabharata« nicht nur durch seinen geringeren Umfang, der etwa 24 000 Doppelverse beträgt, sondern ist auch stilistisch einheitlicher und von größerer Geschlossenheit. Es gilt daher bei den Indern als erstes Werk im Stil der klassischen Kunstdichtung, da in ihm - vor allem in den Naturschilderungen - zum ersten mal von den in der Lehre von der Dichtkunst erläuterten Stilmitteln des Vergleichs und der bildhaften Übertragung Gebrauch gemacht wird. Nach der Überlieferung wird dieses Epos dem weisen Seher Valmiki, einem Zeitgenossen des Gottes Rama, zugesprochen. Das erste und das letzte der insgesamt sieben Bücher wurden später hinzugefügt, die Datierung ist unsicher. Der echte Hauptteil ist wohl jünger als die ältesten Teile des Mahabharata, aber älter als dessen jüngste Teile. Das Epos hat die Verherrlichung des Gottes Vishnu in seiner Inkarnation als Rama zum Thema. Vishnu wird in Ayodhya als Rama, Sohn des dortigen Königs, geboren, um den Dämonenfürsten Ravana zu bekämpfen. Der König hat auch andere Frauen, die zur gleichen Zeit ebenfalls Söhne zur Welt bringen. Rama wächst zusammen mit seinem Halbbruder Lakshmana auf und gewinnt die Königstochter Sita zur Gemahlin. Aufgrund einer Hofintrige muss Rama mit Lakshmana und Sita für vierzehn Jahre in die Verbannung ziehen. Während der Zeit des Waldlebens wird Sita von dem als Bettelmönch verkleideten Dämonenfürsten Ravana nach Lanka entführt, eine Insel, die später mit Ceylon identifiziert wurde. Rama und Lakshmana schließen ein Bündnis mit dem Affenkönig Sugriva ab, dessen Heerführer Hanuman beauftragt wird, den Aufenthaltsort Sitas in Erfahrung zu bringen. Hanuman macht sich daraufhin auf den Weg nach Lanka und springt von der Küste in einem Weitsprung auf die Insel, deren Schönheiten im fünften Buch beschrieben werden. Sein Affenheer errichtet eine Brücke über das Meer, über die Rama nach Lanka gelangen kann. Er besiegt Ravana und gewinnt seine Gattin zurück. Da er sich ihrer Treue nicht sicher ist, bittet er seinen Bruder Lakshmana einen Scheiterhaufen aufzubauen, um ein Gottesurteil durchzuführen. Sita durchschreitet die Flammen unverletzt, und somit ist ihre eheliche Treue nachgewiesen. Danach kehren alle nach Ayodhya zurück, wo Rama zum König geweiht wird. Im letzten Buch des »Ramayan« wird berichtet, wie Rama Sita verstößt und diese zu dem Einsiedler Valmiki gelangt. Dort gebiert sie Zwillinge, die später, nachdem sie herangewachsen sind, bei einem Pferdeopfer des Rama das »Ramayana« vortragen.Die achtzehn »Puranas« (= Erzählungen aus alter Zeit) stehen den beiden großen Epen sehr nahe, allerdings sind sie volkstümlicher. Sie schildern Weltschöpfung, Weltuntergang, Geschlechterfolge und Zeitperioden, Genealogien mythischer und irdischer Königshäuser sowie Mythen, in deren Mittelpunkt die gefeierte Gottheit steht. Die heute überlieferte Fassung dieser Texte stammt wohl in den meisten Fällen erst aus der Zeit Mitte bis gegen Ende des ersten Jahrtausends n. Chr.Im bis heute einflussreichsten »Purana«, dem »Bhagavata-Purana«, werden die zehn Inkarnationen des Gottes Vishnu beschrieben, unter die auch Buddha gerechnet wird. Am populärsten ist das zehnte Buch, in dem die Krishna-Mythen erzählt und auch die Liebesspiele Krishnas mit den Hirtinnen (= Gopi) in den Wäldern von Mathura ausführlich geschildert werden.Dr. Siglinde DietzSivaramamurti, Calambur: Indien. Kunst und Kultur. Übersetzung und Bearbeitung der deutschen Ausgabe von Oskar von Hinüber. Freiburg im Breisgau u. a. 41987.
Universal-Lexikon. 2012.